Wir nehmen sie selten bewusst wahr, aber ohne sie wären wir hilflos. Sprache hilft uns, die Welt zu verstehen, unsere Ideen zu kommunizieren, Ziele zu erreichen. Obwohl wir Sprache ständig und automatisch benutzen, sind die Prozesse zur Bildung und zur Verarbeitung von Sprache im Gehirn wenig bekannt. Dank Technologien wie fMRT (funktionelle Magnetresonanztomographie) konnten Neurowissenschaftler jedoch wichtige Erkenntnisse über sprachliche Prozesse im Gehirn gewinnen.
Sprachregionen im Gehirn
Die hauptverantwortlichen Hirnregionen für Sprache heißen Broca-Areal (hauptsächlich Sprachproduktion, Syntaxverarbeitung) und Wernicke-Areal (hauptsächlich Sprachverständnis). Während die Syntax aus Grundregeln besteht, die alle Menschen einer Sprachgemeinschaft teilen, sind die semantischen Prozesse (Bedeutung) individuell. Sie beziehen beinahe alle anderen Hirnregionen ein, denn das Verstehen mobilisiert alle Sinne des Menschen.
Das Gehirn verarbeitet gesprochene oder gelesene Wörter, deren Reihenfolge und Anordnung (Syntax) und deren Bedeutung (Semantik) und entwickelt dabei einen Prozess, den die Neurowissenschaftlerin Angela Friederici als „neurokognitives Modell des auditiven Sprachverstehens“ beschrieben [1] hat. fMRT-Analysen zeigen wie das Gehirn auf Verstöße gegen die Semantik („ich esse einen Stuhl“) oder die Syntax („ich Apfel einen esse“) mit einer Art Fehlermeldung (erhöhte Aktivität in bestimmten Hirnareale) reagiert.
In Zusammenhang mit diesen Hirnprozessen tauchen viele interessante Fragen auf wie: „Wie wird ein Begriff im Gehirn abgebildet?“, „Wie können mehrsprachige Menschen zwei Sprachregister parallel verwenden, ohne durcheinander zu kommen?“, „Beeinflusst die Sprache unsere Sicht der Welt?“, „Können Computer die Sprache ähnlich verstehen wie Menschen oder worin bestehen die Unterschiede?“, „Warum produzieren zwei Übersetzer oft zwei unterschiedliche Übersetzungen?“. Noch sind viele dieser Fragen ungelöst, aber es lohnt sich, einige Erkenntnisse zusammenzufassen, denn sie können durchaus für die Arbeit von Redakteuren oder Übersetzern nützlich sein.
Erkenntnis 1: Wir kommunizieren und übersetzen als ob alle Menschen immer das gleiche verstehen würden. Die Wissenschaft beweist jedoch, dass dies nicht der Fall ist.
Erkenntnis 2: Das Sprachverstehen benutzt alle menschlichen Sinne (Hörsinn, Sehsinn, Geruchssinn) und Funktionen (Bewegung, Emotionen…). Man spricht von „embodied language“ (verkörperte Sprache). Daher wird ein Computer nie in der Lage sein, die menschliche Sprache so zu verstehen und zu übersetzen wie ein Mensch. Das ist ein wichtiger Grund dafür, warum künstliche Intelligenz nie die Vielfalt der menschlichen Sprache erreichen kann. Computer sind nichts anderes als Rechenmaschine, die anspruchsvolle Algorithmen umsetzen.
Erkenntnis 3: Semantik (im Gehirn gespeicherte Bedeutung) basiert auf Neuronennetzen. Der Neurowissenschaftler Friedemann Pulvermüller nennt solche Netze „distributed neuronal assembly, DNA, or thought circuit, TC“ [2]. Wir interpretieren die Sprache auf Basis der Situationen, die wir erlebt haben und speichern sie sozusagen als semantische Netze.
Erkenntnis 4: Kontext ist wichtig. Wir verstehen nicht anhand von Definitionen, sondern verwenden eher standardisierte Situationen als Referenz (Fußball = Ball während Fußballspiel).
Erkenntnis 5: Sprache beeinflusst das Denken und die Wahrnehmung der Realität. Das gilt insbesondere für Fremdsprachen, aber auch für die eigene Muttersprache. Die im Gehirn gespeicherten und auf individuellen Erfahrungen basierenden Assoziationen beeinflussen die Wahrnehmung der Realität. So hat man beobachtet, dass englische Sprecher sich besser als spanische Sprecher an Bewegungen erinnern konnten, weil ihre Sprache Bewegungen detaillierter beschreibt [3].
Erkenntnisse für technische Redaktion und Übersetzungen
Ergeben sich daraus Empfehlungen für Redaktion und Übersetzungen? Da wir nun wissen, dass jeder Mensch seine individuelle Interpretation der Sprache hat, ist es umso wichtiger, Sprache und vor allem Terminologie zu standardisieren, um eine störungsfreie Kommunikation zu unterstützen. Diese Terminologie kann man mit Relationen (semantische Netze) erweitern, die Definitionen sinnvoll ergänzen.
Bei der Kommunikation mit anderen Kulturen muss man vielleicht stärker als bisher angenommen berücksichtigen, dass diese Kulturen Begriffe mit komplett anderen Assoziationen verbinden, auch wenn die Definition gleich bleibt. Man denke nur an ein Wort wie Transport. Auch hier können mehrsprachige intelligente Terminologien helfen, diese sprachlichen Unterschiede sichtbar zu machen.
[1] Friederici, Angela D. Language in Our Brain: The Origins of a Uniquely Human Capacity. MIT Press. Cambridge, MA. 2017
[2] Pulvermüller, Friedemann, Max Garagnani, and Thomas Wennekers. „Thinking in circuits: toward neurobiological explanation in cognitive neuroscience.“ Biological cybernetics (2014): 573-593.
[3] Filipović, Luna. Speaking and remembering in one or two languages: Bilingual vs. monolingual lexicalization and memory for motion events. International Journal of Bilingualism – 2011/12/01